Verkehr im Ohr

Das Kommunikationssystem ist für Schiedsrichter ein unverzichtbares Hilfsmittel geworden – mitgehört bei Alain Bieri im Spiel GC – Luzern.

Spät meldet sich Jakob Jantscher, oder besser: Er ist frustriert. Und mault. «Lächerlich, was ihr hier in der Schweiz pfeift!» Alain Bieri hat eben ein Foul ­gepfiffen, und das passt dem Österreicher des FC Luzern überhaupt nicht. Er giftelt einmal, zweimal – beim dritten Mal stellt der Schiedsrichter seine Ohren nicht mehr auf Durchzug, er reagiert: «Dann lach doch.» Ende der Durchsage.

Links rein, rechts wieder raus, so tun, als hätte man nichts gehört – das ist schwierig geworden für die Leute, die Spiele leiten. Früher waren sie einsam auf dem Platz unterwegs, was sich hinter ihrem Rücken zutrug, vernahmen sie nicht. Oder höchstens, wenn sie an der Seite sahen, wie der Assistent mit der Fahne fuchtelte. Da wussten sie, es stimmt etwas nicht. Das war zu Zeiten, als Zuschauer noch «Schiri ans Telefon!» riefen, wenn sie ein Entscheid verärgerte. Und heute? Hängt der Schiedsrichter ständig am Draht, ist er online, verbunden mit seinen zwei Assistenten und dem vierten Offiziellen, der zwischen den zwei Bänken steht und sich per Knopfdruck zuschalten kann. Im Ohr tragen sie alle eine massgefertigte Muschel wie ein Hörgerät. Und im Ohr herrscht manchmal viel Verkehr.

«C’est trop, Affolter!»

Headset nennt sich das Kommunikationssystem und besteht aus sechs Empfängern, das heisst, der Inspizient kann auf der Tribüne der Konversation folgen – hat aber keine Möglichkeit, wie ein Super-­visor bei einer strittigen Szene Support zu leisten. Rund 5000 Franken kostet so eine Ausrüstung und gehört zum Standardgepäck eines Schiedsrichters wie gelbe und rote Karten, mehrere Trillerpfeifen oder genügend Spray­dosen für Freistossmarkierungen im Spiel.

Der 37-jährige Alain Bieri, Fifa-Un­parteiischer und beim Schweizerischen Fussballverband zu 50 Prozent Leiter eines Förderungsprogramms für talentierte Schiedsrichter, hat an diesem Samstag den Auftrag, GC – Luzern zu leiten. Alain Heinige r ist der Mann mit der Fahne vor der Haupttribüne, Sertac Kurnazca gegenüber, als Vierter amtet Zenel Musa – es sind ein Berner, ein Lausanner, ein Emmentaler aus Langnau und ein Zürcher. Bieri wechselt fortan zwischen Schweizerdeutsch und Französisch im Austausch mit seinen Helfern, ohne deswegen aber in Verdacht zu ­geraten, eine Plaudertasche zu sein.

Der aufgeteilte Strafraum

«On y va!», sagt er, als er die Mannschaften aufs Feld führt. Los gehts.

«Langer Ball, Achtung!» Vor einem Eckball: «Ich schaue auf Senderos und Affolter!» Von draussen tönt es: «Sehr gut, Alain!» Oder auch: «Achtung, Alain!» Dann lobt Bieri: «Super, Sertac.» Und ­ermahnt vor einem nächsten Corner: «Alle Hände sind unten, Herr Affolter.» Aber Herr Affolter probiert trotzdem weiter, den Gegner unsauber zu bremsen. «C’est trop, Affolter!» Senderos ist wieder in der Nähe, und auch er rudert sich Vorteile mit den Armen frei. «Messieurs, ça suffit!» Bi eris Warnung kommt an. 0:0 zur Pause, leichtes Spiel für Bieri und seine Crew, alles richtig ­gemacht.

Oft kommentiert Bieri Zweikämpfe. «Gut», sagt er dann, will heissen: alles korrekt. Und das Quartett verwendet englische Schlüsselwörter. «Back» ­bedeutet für den Assistenten: Der Verteidiger hat den Ball zuletzt berührt, kein Offside. «Touch» wiederum ist das Signal, dass der Stürmer zuletzt am Ball gewesen ist und darum: Fahne nach oben. Und vor einem Corner oder einem Freistoss teilen sich Schiedsrichter und ein Assistent den Strafraum auf: Der eine konzentriert sich beispielsweise auf das Zentrum, der andere auf den Fünfmeterraum. «Man kann ­unmöglich alles allein auf dem Radar haben», sagt Bieri.

Aber am Ende muss eben doch er entscheiden, nur er. Wenn der Assistent «Penalty, Penalty, Penalty!» ruft, der Schiedsrichter aber überzeugt ist, dass es keiner ist, dann zieht er seine Linie durch. Bieri hat sich längst daran ­gewöhnt, mit Informa tionen berieselt zu werden. Er möchte nicht mehr in die Zeit zurück, in der als einzige Hilfestellung nur ein Sender am Oberarm vibrierte, wenn ein Assistent ihn auf etwas aufmerksam machen wollte.

Im Letzigrund läuft die zweite Hälfte. Kim Källström schimpft: «This is no­thing, this is football!» Bieri findet: «This is not necessary.» Nach 59 Minuten ein Pfiff, Hands von Senderos, Freistoss für Luzern – und Tor. Die Zürcher reklamieren. Bieri kontert ruhig: «Es ist eine ­Bewegung zum Ball, ich stehe gleich ­daneben.» Er schlägt keinen militärischen Ton an, um sich Akzeptanz zu verschaffen, im Gegenteil. «Gentlemen», sagt er einmal zu den GC-Spielern, die eine Mauer bilden, «einen Schritt retour, bitte.» Deutlicher wird er erst, als er Markus Neumayr sagt: «Noch ein Foul, dann gibts Gelb.» Und als David Zibung sich in der 93. Minute viel Zeit für einen Abstoss lässt, fordert Bieri auf: «Komm, Zibung, komm jetzt!»

Die Assistenten verrichten ihre Arbeit diskret, unnötige Informationen übermitteln sie nicht. Aufgezeichnet wird die Kommunikation während der Partie nicht im Gegensatz zu Europacupspielen. Da müssen die Schiedsrichter die Gespräche der Uefa schicken.

Dutzendfaches Dankeschön

GC – Luzern ist kein kniffliges Spiel, so sieht es auch Bieri: «Besonders schwierig ist es nicht gewesen.» Seine Laufleistung beläuft sich auf elf Kilometer, das ist ­verhältnismässig bescheiden. «4, 3, 2, 1», zählt Zenel Musa, nach dem Countdown pfeift Bieri exakt nach 93 Minuten ab. Er schüttelt Hände, sagt dutzendfach «merci», «thank you», «danke», kein Spieler wird bei ihm vorstellig, um sich zu beschweren. «Das war korrekt, oder?», sagt er zu Lustenberger. Luzerns Captain nickt.

Der dürftige Inhalt des Spiels ist nicht die Schuld der Spielleiter. Darum sind sie hinterher kein Thema. Auch nicht mehr bei Jakob Jantscher.

(Tages-Anzeiger April 2016)